Was hilft gegen Obdachlosigkeit?
Artikel im Höchster Kreisblatt/Frankfurter Neue Presse vom 14.12.2017 - Sascha Körner
Hattersheim.
Während Gleichaltrige ihre Ausbildung abschließen oder eine Familie gründen, schlagen sich immer mehr junge Menschen auf der Straße durch. Die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland steigt an. Erst im November veröffentlichte die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe Zahlen, wonach 860 000 Menschen im Jahr 2016 ohne festen Wohnsitz waren. Dies entspricht einem Zuwachs um 150 Prozent seit 2014.
Die BAG erwartet einen weiteren Anstieg auf bis zu 1,2 Millionen Wohnungslose im kommenden Jahr. Neben diesen alarmierenden Zahlen besteht der Trend, dass immer mehr junge Menschen auf der Straße landen. Klaus Störch von der Caritas Wohnungslosen-Einrichtung Haus St. Martin berichtet, dass in den vergangenen drei Jahren 24 bis 27 Prozent der Gäste in Hattersheim im Alter zwischen 18 und 25 Jahren waren.
"Auszugsverbot"
"Unser Eindruck ist schon, dass die Betroffenen immer jünger werden", sagt Klaus Störch. Der Leiter der Hattersheimer Anlaufstelle für Obdachlose vermutet verschiedene Gründe hinter dieser Entwicklung. Zum einen verweist er auf die bestehenden Regelungen in der Hartz-IV-Gesetzgebung. Dort werde der Bezug von Leistungen daran geknüpft, dass junge Menschen weiterhin unter dem Dach ihrer Eltern leben. Die Vorschrift im Sozialgesetzbuch (SGB) II, Paragraf 22, entspreche einem "Auszugsverbot". Kurz gefasst: Junge Menschen, die unter 25 Jahre alt sind und von zu Hause ausziehen, erhalten nur erschwert Unterstützungsleistungen für Wohnung und Heizkosten. Dass junge Männer und Frauen ohne Job einfach in der häuslichen Gemeinschaft ihrer Eltern bleiben, sei jedoch eine "völlig falsche Einschätzung", findet Klaus Störch. Arbeitslosigkeit ziehe häusliche Konflikte nach sich. Deshalb würden einige junge Arbeitslose lieber in die Wohnungslosigkeit gehen, als sich mit familiären Problemen auseinanderzusetzen. Für manchen Volljährigen, der mit 18 oder 19 Jahren aus der Jugendhilfe herausfalle, gebe es keine Anschlusshilfe.
Einen weiteren Grund für den Schritt in die Obdachlosigkeit sieht Störch in der bewussten Entscheidung, dass Menschen die Tagessätze für Wohnungslose der Sozialhilfe vorziehen. Er glaubt, dass sich viele nicht "dem restriktiven System der Sanktionierung" in der Sozialhilfe aussetzen wollen.
Auslöser in der Familie
Hinzu komme der Umstand, dass ein Leben auf der Straße für manche zunächst einen "Geschmack von Abenteuer" habe. Dass es überhaupt schon in jungen Jahren so weit kommt, erscheine angesichts freier Ausbildungsplätze paradox, räumt Störch ein. Der Auslöser liege oftmals in der Familiensituation. Viele Betroffene kommen aus sogenannten bildungsfernen Familien, erläutert der Chef der Hilfseinrichtung.
Armut werde gewissermaßen "sozial vererbt". Ob jungen Menschen der Wiedereinstieg in ein geordnetes Leben gelingt, hänge von der Dauer der Wohnungslosigkeit ab. "Wenn jemand erst relativ kurz wohnungslos ist, dann ist die Chance auf einen Anschluss vielversprechend", erklärt Klaus Störch. Sobald die Wohnungslosigkeit chronisch werde und sich derjenige mit seiner Situation abfinde, werde es problematisch. Aus Sicht des Caritas-Mitarbeiters überwiegt derzeit jedoch das strukturelle Problem, dass es zu wenig bezahlbaren Wohnraum gebe. Durch die schwindende Zahl von Sozialwohnungen und den großen Konkurrenzdruck auf dem Wohnungsmarkt habe sich die Situation für Wohnungslose dramatisch verschlechtert.
In Großstädten könne man bereits Jugendliche beobachten, die auf der Straße leben, erzählt Störch. Im Einzugsbereich des Haus St. Martin sei dies jedoch bisher noch kein Problem. Als Ausweg aus der fortschreitenden Verjüngung von Wohnungslosen empfiehlt Klaus Störch zum einen Anpassungen in der Sozialgesetzgebung. Zum anderen müsse der Wohnungsmarkt dringend weiterentwickelt werden.